20. Juni 2008 - Pippo Pollina & Jean Pierre von Dach in Altenkirchen

Toskanische Nacht mit sizilianischem Akzent
von Christel Amberg-Wiegand

Pippo ist seit bald 20 Jahren gern gesehener Gast in Altenkirchen bei Helmut Nöllgen icht nur zur „Toskanischen Nacht“ und ich wette, er wird irgendwann mal Ehrenbürger. Ungewohnte Bedingungen allerdings heute, denn als Pippo und Jean-Pierre von Dach die Bühne betreten ist es noch taghell und die Stühle vor der Bühne auf dem Schlossplatz noch wenig besetzt. Die Konkurrenz auf der Festmeile ist groß: überall gibt es Musik, die Menschen flanieren hoch und runter, lassen sich treiben, stillen ihren Hunger und Durst, bleiben und gehen wieder. Doch diese Musik ist wie ein Magnet, der Platz füllt sich nach und nach.

Diesmal sind sie nicht der Hauptact, sonst nur „Anwärmer“. Kurzes Zurechtrücken auf der mikrokleinen Bühne, Notenblätter, das Mikro parat und dann geht es schon los mit Ancora Camminando und gleich darauf Insieme. „Freund, bleib einen Augenblick noch hier“ könnte auch ein Lockruf an die Altenkirchener sein. Pippo stellt wie immer ganz schnell die Verbindung zu seinem Publikum her. Musik ernährt sich von den Reisen, erzählt er, die schönsten Geschichten liegen dort… z.B. in Marrakesh, in die geheimnisvolle Welt Marokkos, wo er Gastfreundschaft selbst im entlegenen Irgendwo der Atlaswüste erlebte, dort, wo es buchstäblich nichts gab… aber TV. Und schon entfaltet sich ein Zauber, eine Energie, wie in einem Taumel der geheimnisvollen Stimmung in den engen Gassen eines Suks… flirrende, flimmernde Töne, die ein bisschen Fernweh machen.

Das Programm ist ähnlich dem von „Über die Grenzen“ mit Konstantin Wecker und Band, und dabei absolut verlustfrei einreduziert. Pippo wechselt immer wieder von den Tasten an die Saiten; zwei Gitarren dieses Schlages klingen einfach verdammt gut!

Jean-Pierre von Dach ist ein begnadeter Musiker mit einem fantastischen Einfühlungsvermögen und Spontaneität für den Moment. „Der beste seines Faches in der Schweiz“ unterschreibe ich mit „Hochachtungsvoll“! Pippos Lieder bekommen neue klangvolle Facetten. Ich lasse mich einfach hinein sinken und höre immer wieder Überraschendes. Umgekehrt geht’s auch: dessen Komposition Just another Day heißt bei Pippo Il giorno piu. Alles ist solide, ehrliche vor allem handgemachte, herzgemachte, gefühlsgemachte Musik. Hundert Prozent und mehr. Voooolaaaare, Yeah, Yeah, Yeah… schafft zwar nicht ganz die Energie wie von 300 Frauen während eines Gefängniskonzertes, ist aber als erster gemeinsamer Gesangspart so etwas wie der Bannbrecher. Von da an haben die Menschen Lunte gerochen. La luna e i Falò kommt mit ordentlich Stromgitarre, er lässt es hinten raus pfeifend ausklingen, was mit Lachen fast unmöglich ist… Die Erfahrung von zig Jahren unterwegs sein und inzwischen vielen gemeinsamen Konzerten bedeutet keine Gefahr für routinemäßiges Abhandeln, man hört die Lust und die Freude am gemeinsamen Tun! Da ist immer Platz für eine gepflegte Improvisation. Alles klingt wie frisch gemacht für diesen Abend und Anlass. Mal rockig mitreißend, dann wieder mit tiefer Seele, mal mit Bottleneck und unglaublichem Volumen, ein bisschen staubig und heiß, kernig und tough, als Pippo sich eingroovt, das Tamburin schnappt und diesen temperamentvollen ausufernden Rhythmuspart wieder wie ein Derwisch mit vollem Körpereinsatz zelebriert. Er gibt immer alles und vor allem sich. Ein Augenschmaus ist das und Ohrenschmaus sowieso. Das ist ansteckend, ich möchte am liebsten aufspringen… Szenenapplaus kommt folgerichtig und glaubhaft begeistert. Es folgt die kleine sizilianische Pause zum Getränke holen und wegbringen.

Da fürchte ich schon die Abwanderung der Massen, nicht aus Fluchtgedanke wegen mangelndem Gefallen, sondern weil Festbesucher gemeinhin unstet und wenig sesshaft sind und der Zerstreuung zugeneigt. Doch weit gefehlt, die zweite Halbzeit knüpft stimmungsmäßig direkt da an mit einem Sambadiò voller Elan und Verve, die Gitarre leicht geklöppelt, mitsingen geht immer besser, Applaus immer mehr. Und schon katapultieren sich die beiden zu temperamentvollem Gitarrenalarm, dazu Pippos raue, leidenschaftliche Stimme, das Herz brennt für Bella Ciao… denn Manipulation von Massen - früher wie heute - ist immer auch die Stunde der Musikanten, sagt er. Pippos Programm hat immer auch etwas von Sprechtheater – mit den Geschichten hinter den Liedern. Er zieht jeden der es möchte und zulässt mit hinein in sein Denken: „Träume, Utopien sind Lichtblicke im täglichen Leben. Du hast sie fast erreicht, willst zugreifen, doch sie sind schlau und springen davon. So lernt man Laufen…“ Centopassi… 100 Schritte. Unglaublich bewegend und schön, alles rundum ausblenden, Scheuklappen auf Ohren und Augen für diesen Mann mit dieser Stimme und dazu Jean-Pierres ausgedehntes, ausschweifendes Gitarrensolo. Göttlich!

Das mitreißende Chiaramonte Gulfi und Sotto la Ruota fegen sie richtig mit Schmackes über den Platz, setzen ein Ausrufezeichen für den offenen Abend. Die Altenkirchener lassen sich nicht lumpen, sie bekunden lautstark ihre ehrliche Wertschätzung. Kurzer Bühnenabgang zur Seite, hören, wie ausdauernd wir sind und für würdig befunden für ein besonders feines Zugabengeschenk: Siamo angeli ist zum Sterben schön, fast zu schön für hier und jetzt, großes Herz, großes Gefühl… ein Liebeslied voller Innigkeit und Intimität, die beinahe weh tut, denn, „Lieder, wenn sie geschrieben sind, gehören mir nicht mehr, sie gehören dem Publikum.“ Ich nehme es dankbar an.

Das war schon etwas fremd, Pippo und Jean-Pierre auf diesem Pflaster zu hören, so früh am Abend, noch viel Bewegung, die Menschen noch nicht bereit, wenig Ruhe zum Hören… und doch haben sich Pippo und Jean-Pierre Gehör verschafft und eine lockere entspannte Atmosphäre unter die Menschen gespült und sie in ihren Bann gezogen. Unüberhörbar und selbstbewusst haben sie sich mit ihrer Musik und mit ihrer Präsenz wahrhaft Gehör verschafft und ganz gewiss ein Marker im Bewusstsein Vieler gesetzt. So werden Wiederholungstäter geboren. Auf Wiedersehen im September - im Spiegelzelt – dann in großer, anderer Besetzung.

Christel Amberg-Wiegand für www.erlebtemusik.de

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